Klara Burghardt: Das durstige Bächlein

Klara Burghardt ist eine donauschwäbische Schriftstellerin und lebt in Südungarn. Mehr Informationen auf ihrer Internetseite: www.klaraburghardt.com

Es war einmal ein kleines Dörflein in der Umarmung von einem Berg, von Hügeln, Ackerfeldern, Teichen, Weingärten und breiten Wiesen, im wunderschönen mediterranen Südungarn. Es bestand aus drei Gassen, in Y-Form. Die schönste und breiteste war die Kirchengasse. In der Mitte der Straße befand sich ein kleines Bächlein. Das ganze Jahr floss darin frisches, reines Wasser, aus einer Quelle im Weinberg.
Ich bin in dieser Gasse aufgewachsen. Der Bach war damals für uns Kinder ein Spielparadies. Barfuß, in alten Klamotten, suchten wir nach Fröschen und Steinen. Früher standen Maulbeerbäume an beiden Seiten des Ufers. Wir trieben unsere Enten und Gänse ins Wasser, in dem wir vorerst mit Brettern kleine Sperren machten und so hatten wir alle unseren “eigenen Teich”. Wir stiegen nach dem Federvieh auch ins Wasser. Wir plantschten im Sommer den ganzen Tag im Bach.
Die Buben stiegen auf die Bäume und schüttelten die dunklen Maulbeeren ab. Die Tiere aßen so viel davon, dass sie fast umfielen. Wir lachten, als wir sie nachmittags, beim Heimtreiben schwanken sahen!
Daheim ist aber unsere Lustigkeit vergangen, als unsere Oma schimpfte!
Der Bach war ein Treffpunkt der Schulkinder.
Die Buben aßen Beeren auf den Bäumen, dann warfen sie auch welche den Mädchen runter. Die Gesichter, die Hände, noch die Haare wurden lila-blau! Die Kleineren holten alte Decken von zu Hause, spielten mit ihren Puppen, mit Karten.
Ich schmöckerte gern unter diesen Bäumen. Da konnte ich meine Bücher lesen und war doch mit meinen Freunden zusammen.
Mit vierzehn kam ich aus dem Dorfe und von meinem geliebten Bach weg.
Es sind viele Jahre vergangen.
Schon als reife Frau und Witwe zog ich wieder in mein Heimatdörflein zurück. Ich kaufte neben meinem Lieblingsbach ein Haus für mich und meine Söhne.
Das Dorf ist auch heute klein. Das Bächlein liegt auch heute in der Kirchengasse.
Die Grünfläche am Ufer ist gepflegt. Statt der Maulbeerbäume stehen Kiefern, Platanen, Birken, Linden und Kastanienbäume am Ufer des Baches.
Darin fließt nur wenig Wasser, auch bei Regenwetter. Die Quelle im Berg ist ausgetrocknet, man findet sie nicht.Am Ufer spielen keine Kinder mehr, nur am Abend hört man sie. Die Schule hat zugemacht, die Schulkinder kommen erst spät nach Hause. Die Gasse ist still und ruhig. Es laufen keine Gänse, Enten auf der Straße.
Einst kamen die Leute nach der getanen Arbeit vor ihre Häuser, schauten den Kindern beim Spielen zu. Sie brachten mal ein Stück Kuchen, mal ein Pausenbrot heraus, damit die Frätzchen keinen Hunger haben sollten.
Die Buben und Mädchen waren einfach, zum Spielen gekleidet. Heute laufen modisch gekleidete Mädchen, in Miniröcken, mit winzigkleinen Blusen, mit Walkman auf den Ohren durch die Straße. Die Buben fahren Rad, sitzen in der Stube am Computer. Wen interessiert der Bach und die Bäume am Ufer?
In den Gärten der alten, schön renovierten Häuser blühen Blumen, ihre Fenster sind voll mit Pelargonien. Fleißige Männer mähen regelmäßig den Rasen in ihren Gärten. Dort, wo einst Hühner, Enten und Gänse gelaufen sind, wächst jetzt schöner Rasen. Die meisten Gärten sind gepflegt. Einst hatten die Leute große Gemüsegärten, die gehen langsam verloren. Immer weniger Menschen bauen Gemüse an.
Früher hatte jede deutsche Familie einen Weingarten, große Maisfelder, mit Kürbis, Bohnen darin. Heute gehören die Felder nur den wenigen landwirtschaftlichen Unternehmern. Es sind wenig Weingärten da! Die Alten sind ausgestorben, die Jugendlichen sind aus dem Dorfe gezogen. Es ist niemand da, der die Felder bearbeiten würde.
Am Bachufer, im Schatten der Bäume, vor dem Nachbarshaus steht eine Holzbank, ohne Rückenlehne. In den kalten Tagen steht sie leer und verlassen da.
Jedoch ab den warmen Frühlingstagen bis zum Altweibersommer ist sie Treffpunkt alter Leute. Hierher kommen ein Siebenbürger Sachse, ein Ungar, eine Frau über 80, ihr Mann ist aus der Slowakei übersiedelt, eine Frau aus der Slowakei und zwei Salacker Fränkinnen, die eine ist meine Mutter.
Die alten Leute kommen zur gleichen Zeit zur Bank.
Wenn zwei laut miteinander reden, gesellen sich bald die anderen dazu. Und dann geht es los! Sie sprechen über das kommende Wetter, über die Arbeiten im Garten, um das Haus herum.
Sie erzählen über die frühere Zeit, über alte Sitten und Bräuche. Es wird auch heftig über die heutige Politik diskutiert.
Die Männer lesen regelmäßig die Tageszeitung, sie sind gut informiert über die Lage des Landes.
Die Frauen hören meistens zu. Sie haben andere Themen. Was gibt es Neues im Dorf?
Wer heiratet, wer geht mit wem?
Wie wird das Wetter, was wurde gekocht?
Sie tauschen Kochrezepte aus.
Wenn ich meine Schwester besuche, laufe ich an der Bank vorbei und bleibe immer ein wenig stehen.
Ich bringe ihnen manchmal Kuchen heraus, oder ein Gläschen Wein.
Die Omas und Opas sind neugierig, stellen mir Fragen, die ich gerne beantworte.
Sie erzählen mir die neuesten Nachrichten aus dem Dorf, sie sind für mich das Dorfradio – im guten Sinne!
Jedesmal bekomme ich von ihnen Aufmerksamkeit, gute Ratschläge.
Es wird stundenlang geschwätzt, gelacht.
Es war eine gute Idee, die Bank als Treffpunkt der Alten, hierherzustellen. Das Dorf ist gealtert, heute beleben nur alte Leute das Bachufer.
Alle sind um die achtzig.
Die Seelenglocke wird bestimmt bald für einen von ihnen läuten.
Wer wird danach auf der Bank sitzen?
Werde ich es sein, mit meinem Nachbarn? Ob mein Enkelkind auch mal hier spielen wird?
Das Bächlein ist heute durstig, durstig nach Wasser, nach den alten Maulbeerbäumen, nach den Sitten und Bräuchen, nach Lärm der Kinder, nach Zusammenhörigkeit und Freundschaft der Dorfbewohner.

2011-10-01