Sindelfingen: Donauschwäbische Literatur-Tagung (24./25. 11. 2012) – Die schreckliche Treue der Toten

“Donauschwäbische Literatur als Spiegel von Epochen und Staaten” lautet das Thema einer zweitägigen Tagung im Sindelfinger “Haus der Donauschwaben” (Goldmühlestr. 30) am 24. und 25. November 2012 (Samstag ab 14 Uhr, Sonntag ab 9.15 Uhr). Unter den Referenten befinden sich unter anderem Dr. Olivia Spiridon aus Tübingen (“Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs bei deutschen Schriftstellern aus dem rumänischen Banat”), Dr. András F. Balogh aus Budapest (“Adam Müller-Guttenbrunns Werk im Spannungsfeld zwischen nationaler Selbsterhaltung und europäischer Gesinnung”), Dr. Eszter Propszt aus Szeged (“Die ungarndeutsche Gegenwartsliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg – ein Überblick”), Dr. Ivan Poljaković aus Zadar (“Donauschwäbische Vertreibungsliteratur und ihre Rezeption”) und Leni Perenčević aus Ulm (“Die Donauschwaben im Spiegel der serbischen und kroatischen Literatur seit 1945”). Aus ihren Romanen lesen Johann Lippet (Wels/Sandhausen) und Helmut Erwert (Weißkirchen/Bogen). Bei Lippet handelt es sich um den dritten Teil der Familien-Trilogie “Bruchstücke aus erster und zweiter Hand”.

Erwert liest aus seinem Roman-Manuskript “Die schreckliche Treue der Toten”. Der in der Stadt Weißkirchen/Bela Crkva (Westbanat) geborene Autor hat in der Kindheit in vielsprachiger, mehrkultureller Umgebung gelebt, fühlt sich zu jenem kulturellen Reichtum hingezogen, verfolgte sein multikulturelles Interesse in einem Sprach- und Geschichtsstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität München, danach in einem Lehrauftrag auf Long Island, New York, später in einem Projekt für bikulturelle Erziehung und Bildung am Colegio Aleman Barcelona.

In zahlreichen Referaten und Lesungen geschichtlichen bzw. literarischen Inhalts hat Erwert sein erarbeitetes Wissen verbreitet, engagiert sich in Publikationen, Gesprächen und Symposien für Ziele einer freundschaftlichen Verständigung zwischen multikulturellen Gruppen, hat umfangreiche Bücher zur Regionalgeschichte seiner Wahlheimat verfasst, ist publizistisch in belletristischen Zeitschriften und mit Aufsätzen zu fremdsprachenkundlicher bzw. literarisch-südosteuropäischer Thematik hervorgetreten. Über einen seiner literaturkundlichen Beiträge schrieb Prof. Friedrich Prinz in der “Frankfurter Allgemeinen”: “Sehr ansprechend ist das Literaturkapitel von Helmut Erwert, das dem deutschen Leser eine neue Dimension deutschsprachiger Dichtung unter den spezifischen Lebensbedingungen des katastrophenreichen zwanzigsten Jahrhunderts erschließt.” (FAZ, Nr. 55, 06.03.1995). Zum vorliegenden Romanmanuskript schrieb der Schriftsteller Karl-Markus Gauss in einer e-mail an den Romanautor: Erwert habe “Gnade … nicht nötig”, da er (Gauss) das Manuskript als Buchangebot “heftig” unterstütze. Positiv aufgenommene Probelesungen aus dem Manuskript in Wien, Straubing, Sindelfingen etc. haben eine gute Resonanz bestätigt.

Zum Inhalt des Romans von Erwert:

Die schreckliche Treue der Toten hält die Lebenden in ihrer Spur, auch die junge Frau Elli Gabor-Willar, die, mit gemischt-ethnischen Wurzeln in den multikulturellen, vielfarbigen Landstrich “Banat” hineingeboren, in diesem schwierigen, fruchtbaren, levantinisch angehauchten Land auf ausgesetzten Höhen, über gefährliche Grate wandert, dabei einen atemberaubenden Ausblick in andersartige Denkweisen genießt. Sie gerät in schwierige Phasen der Selbstvergewisserung, als ein jugoslawischer Fliegeroberleutnant sich in die attraktive junge Frau verliebt. Ihre Sympathie für den Jagdflieger Tihomir bewegt sich zwischen dem Wunsch nach Aneignung fremder Kultur, dem skeptischen Verhalten der Familie, der Angst vor Selbsttäuschung, entwickelt sich entlang einer heiklen Grenzlinie zwischen Bewahrung und Integration, stellt Fragen, die heute in der globalisierten Welt täglich diskutiert werden.

Bei der unsteten, zuweilen schwankenden Entscheidung ihres Fliegeroffiziers für eine feste Bindung, rückt plötzlich Johann, der Bruder ihres Chefs, in ihren Blickpunkt. Durch die tägliche geschäftliche Begegnung mit ihm entwickelt sich eine größere Vertrautheit, sie spürt eine engere Nähe zu dessen Lebensweg und Charakter, und die beiden entscheiden sich füreinander. Der in seinem Stolz verletzte Militär tobt vor Eifersucht, lässt sich in einen anderen Ort versetzen.

Ihre Ehe mit Johann ist menschlich und wirtschaftlich vorbildhaft, bis Johann in den Zweiten Weltkrieg eingezogen wird. In dieser Zeit gerät Tihomir in Lebensgefahr, und Elli willigt ein, ihm ein Versteck zu gewähren, riskiert dabei Kopf und Kragen.

Nach dem Krieg bleibt Johann vermisst, Elli wird mit den drei unmündigen Kindern in die Einsamkeit gestürzt. Als eine Verbindung mit Tihomir nun wieder möglich ist, wagt sie nicht über den eigenen Schatten zu springen, kann sich nicht von der Treue zu Johann lösen. Ihre Einsamkeit in der Entscheidungsfindung beruht auf der verstellten Einsicht in die Tragweite ihrer Entschlüsse und erweist die schauerliche Unentrinnbarkeit gegenüber zeitgeschichtlichen Verhängnissen. In den Zeiten, wo Liebe zum Risiko wird, erhofftes Dauerglück sich als himmelweit entfernt erweist, gerät sie in tiefste Demütigung und Zerknirschung. Ihr tapferes Festhalten am Selbstverständnis raubt ihr die Heimat, den geliebten Mann, zuletzt das eigene Leben.

Der Leser geht mit der Protagonistin durch die Fährnisse, staunt und schaudert über den bizarren Verlauf ihres Lebensweges, kehrt unwillkürlich an vielen Stationen bei sich selbst ein, wird vom Ende, das wie in der antiken Tragödie mit Wucht herabstürzt, tief erschüttert. Das Gesamtpanorama des Romans umfasst den Abgesang der Existenz der Westbanater Schwaben im 20. Jahrhundert, der hier zum ersten Mal in umfassender, authentischer Anschaulichkeit dargestellt ist. Der bewegende, dramatische Lebensablauf Ellis vollzieht sich auf dem Hintergrund der pannonisch-habsburgisch geprägten Provinz des West-Banat, entfaltet ein breites kultur- und sozialhistorisches Panorama mit vielen Kontroversen, zeigt das risikohafte Abenteuer in fremden Welten und gefährdeten Zeiten, nachvollziehbar in manchen Situationen unseres globalen, konfliktreichen Zeitalters.

Landschaft und Menschen spiegeln die vorindustriell-bukolischen Gefilde Pannoniens wider, ein Meer kultureller Vielfalt und zivilisatorischen Reichtums, abgehoben von der genormten, verplanten Massenkonsumgesellschaft heutiger Zivilisation. Diese originelle Welt (exilrussisch-zaristische Offiziere, altösterreichisch-deutsch geprägte Stadtbewohner, serbische, kroatische, jüdisch-ungarische Geschäftsleute) wird von aufoktroyiertem, militaristischem Ungeist überrollt, ihre Varietät missbraucht von chauvinistischen oder religiös-politisch-sozialen Interessen, überstempelt von vordergründig-politischem Kalkül, überlagert von nationalistischer Engstirnigkeit, die Farbigkeit und Urwüchsigkeit des Lebens wird überformt von kriegspolitisch diktierter Monotonie, die Friedlichkeit der Kleinstadt durch überregionale militärische, sozial- und wirtschaftspolitische Ereignisse.

Die geschilderte südosteuropäische Vielvölkerregion Banat/Vojvodina kann als paneuropäisches Modell erlebt werden. Der Leser erkennt, wie multikulturelles Leben fruchtbar gelingen und schrecklich misslingen kann, - im Angesicht der gegenwärtigen nationalen und ethnischen Probleme in der EU kein nebensächlicher Aspekt. Er kann die Einsicht gewinnen, dass der reiche Schatz eines mehrkulturellen Kaleidoskops, zerbrechlich wie eine Porzellanfigur, weder von außen noch von innen gefährdet werden darf. Die geschilderten, gewaltbesetzten Ereignisse erweisen die Notwendigkeit einer stets neu zu erobernden Toleranz.

Kontaktdaten bezüglich der Tagung:
Haus der Donauschwaben
Goldmühlestraße 30
71065 Sindelfingen
Telefon: +49 7031 - 79376 - 30
Fax: +49 7031 - 79376 - 40
eMail: info@haus-donauschwaben.de
Internetseite: www.haus-donauschwaben.de

2012-10-23