Traumata oder Die verlorene Identität (Teil 3)

Was macht politisch organisierter Massenmord (Krieg) mit den Überlebenden?

Von Rosa Speidel

Bereits am 28. Januar 2011 und am 16. Februar 2011 erschienen der erste und zweite Teil der donauschwäbischen Schriftstellerin (mehr über Rosa Speidel unter www.rosaspeidel.de). Diese beiden Teile sind im Archiv unter Traumata oder Die Verlorene Identität (Teil 1) bzw. Traumata oder Die Verlorene Identität (Teil 2) eingestellt.
Mit dem dritten Teil ist die Serie beendet.

Aus Datenschutzgründen Namen geändert und Lebensbilder chiffriert_

Helene M. ist seit vielen Jahren in psychotherapeutischer Behandlung. Ihre Mutter sei bereits in frühester Jugend gestorben, obwohl sie erst vor einigen Jahren wirklich starb, und sie selbst habe noch nie normal gelebt, sie wisse gar nicht, wie das ist, ob sie es je schaffen werde, wisse sie auch nicht.

Ihre Mutter habe sie für alles verantwortlich gemacht, was ihr im Vernichtungslager zugestoßen sei. Sie habe ihr immer wieder eingehämmert, sie sei unfähig, nichts wert, werde es nie zu etwas bringen und erinnere sie jeden Tag an diese verdammte Folterkammer. Prompt habe sie (Helene M.) als Siebzehnjährige einen unehelichen Sohn bekommen, den die Mutter aber sofort unter ihre Fittiche nahm. Schließlich musste Helene die begonnene Ausbildung zu Ende bringen und danach arbeiten, um sich und das Kind ernähren zu können. Das Kind wurde Omas Kind, zu der es manchmal Mama sagte, und zur Mutter sagte es ich hasse dich.

Helene und ihr Sohn sind auch heute noch zerstritten, über zehn Jahre nach dem Tod der Großmutter. “Es hat überhaupt keinen Sinn, mit ihm zu reden, er will mit mir nichts zu tun haben und - wenn ich ehrlich sein soll - ich mit ihm auch nicht. Ich will mit meiner ganzen Vergangenheit nichts mehr zu tun haben.” Sie sei dabei, sich im Ausland eine neue Identität aufzubauen. Eigentlich hasse sie sich, denn sie wisse wirklich nicht, wozu sie überhaupt lebe. “Wertschätzung ist etwas für andere, aber nicht für mich. Das mit der neuen Identität ist mein allerletzter Versuch, Fuß zu fassen, wenn dieser Versuch scheitert, nun ja…” Helene redete nicht weiter.

“Unbekannt verzogen” und “kein Anschluss unter dieser Nummer” waren die Reaktionen auf meine Versuche, erneut mit Helene Kontakt aufzunehmen (sie ist wohl unterwegs zu ihrer neuen Identität).

Die Dunkelziffer jener Menschen, besonders Frauen, die als Kinder traumatisierter Mütter selbst unter Traumata leiden, wird weiter im Dunkeln bleiben.

“Ich muss immer eine Wand oder eine Ecke im Rücken haben, um mich einigermaßen sicher zu fühlen”, sagte eine ältere Donauschwäbin, “ich brauche die Rückendeckung und ich muss wissen, was hinter mir ist, und ich muss den Raum im Auge behalten, sonst bekomme ich Panik. Eine Panik, die ansteckend ist wie die Pest.” Sie traue sich auch heute noch nicht, einem Mann länger als ein paar Sekunden in die Augen zu schauen. Den durchbohrenden Blick von damals fürchte sie wie ein Messer im Rücken. Sie spüre immer noch einen eigenartigen Druck auf der Brust, obwohl sie damals gar nichts gespürt habe. “Es kommt mir vor, als ob es mit zunehmendem Alter immer mehr weh tut, besonders innen drin.”

“Zu dritt sind sie hereingestürmt, haben meinen Vater gefesselt und dann sind sie über mich hergefallen. Als es vorbei war, habe ich mich aufgerappelt und meinem Vater die Stricke weggemacht”. Sie sei steif wie ein Besenstiel gewesen, konnte weder schreien, noch habe sie etwas gespürt. “Vielleicht war es gut so, denn viele, die geschrien haben, wurden so lange geschlagen bis sie tot waren. Manchmal frage ich mich schon, was da eigentlich ablief. Wenn ich daran denke, ist es, als stehe ich neben mir in einem schlechten Film. Den Gestank habe ich noch in der Nase. Wenn ich bloß diesen Gestank loswerden könnte.”

Erika O. schilderte ihre Mutter zunächst als intelligente, feine Frau aus gutem Hause, die aus unerklärlichen Gründen zum rachsüchtigen Monster wurde, das der Tochter das Leben zur Hölle gemacht hatte. Erika ging auch mit den Geschwistern ähnlich ins Gericht. Sich selbst schilderte sie als warmherzig, hilfsbereit und völlig hassunfähig. Sie werde aber von anderen terrorisiert, ohne dass sie etwas dafür könne. Sie habe dank ihrer geistigen Fähigkeiten, in den allerbesten Kreisen verkehrt, Kontakte zu Akademikern gepflegt, aber auch zum Geheimdienst. Andererseits musste sie der Mutter zur Hand gehen, ihr wie eine Dienstmagd zur Verfügung stehen. Die Mutter wollte quälen und beherrschen, um die Tochter zeitlebens an sich zu binden.

Obwohl die Mutter inzwischen tot sei, werde sie weiter terrorisiert, und zwar von Leuten, die ihr ihre geistigen Fähigkeiten nicht gönnten.

Wer nicht selbst Vergewaltigung und Mord miterlebt hat, ist schnell dabei zu (ver)urteilen. Daran sei auch hier nochmals erinnert und an die verlorene Identität.

Da eine traumatisierte Mutter durch ihre eigenen Erlebnisse nicht mehr in der Lage ist, klare Regeln aufzustellen, nach denen sich das Kind richten kann, ist diese Mutter-Kind-Beziehung an der Basis fortwährend gestört. Was im Verlauf dazu führen kann, dass die Tochter, der Sohn ihre Traumata an ihre Kinder vererben und auch in der Erziehung der Kinder das gleiche Verhaltensmuster anwenden wie sie es erlebt haben. Wird diese Fehlentwicklung über Generationen nicht erkannt, wachsen immer wieder Kinder heran, deren Fehlverhalten überwiegend der Gesellschaft, dem Umfeld zugeschrieben werden. Massaker, Krieg und Vergewaltigung sind längst in Vergessenheit geraten, warum sollte man sie als Ursache psychischer Störungen in Betracht ziehen? Nur wenige Menschen werden hier gezielte Therapien durchlaufen.

Wenn ein junger Mensch mit dreizehn Jahren im Kinderarbeitslager Steine und Eisenstangen schleppen musste bis sein Rücken und seine Hände bluteten, wenn er miterleben musste, wie ein Partisan mit seinen Stiefeln auf die nackten Füße der Kinder trat bis das Blut heraussickerte, die Kinder dabei markerschütternd schrien und vor Schmerz bewusstlos in sich zusammensackten, wenn dieser Partisan mit seinem Motorrad in die Kindergruppe fuhr und die Kinderkörper zerfetzt durch die Luft flogen, und wenn dieser Junge dann noch mit ansehen musste, wie sich zehn, fünfzehn Partisanen auf eine Frau stürzten – dann kann man zwangsläufig davon ausgehen, dass dieser Junge posttraumatische Belastungsstörungen hat, die nicht in einem einzigen Leben abgebaut werden können. Auch seine Tochter, die zwanzig Jahre später zur Welt kam, war psychisch geschädigt und starb früh, obwohl sie physisch scheinbar gesund war.

Martin S., Jahrgang 1939, war zunächst in Gakovo. Nach dem Tod seiner Großmutter fiel er als Sechsjähriger dem kommunistischen Machtapparat in die Hände, bekam einen serbischen Namen und wurde immer wieder in andere Kinderheime gebracht. Als er fast vierzehn Jahre alt war, klärte ihn einer der Lehrer über seine wahre Identität auf und setzte sich mit dem Roten Kreuz in Verbindung. Für den Lehrer war dies damals lebensgefährlich. Das Rote Kreuz fand Martins Großvater, der in Deutschland lebte, und Martin, der kein Deutsch mehr sprach, kam in den fünfziger Jahren zu seinem Großvater.

Ich lernte Martin S. als schmächtigen, blassen, in sich gekehrten Mann kennen, dessen Haltung stets zu einer unterwürfigen Verbeugung ansetzte. Sein Blick wanderte unruhig vom Boden in den Raum und wieder zurück. Martin redete nie, ohne gefragt zu werden, antwortete mit abgehackten Wörtern, flüssige Sätze waren eher die Ausnahme. Als ich ihn nach seinen Erinnerungen an Gakovo oder eines der Kinderheime befragte, zuckte er mit den Schultern. Eigentlich wisse er nichts mehr von damals. Ich fragte ihn, ob er sich denn an Prügel in der Schule oder Arrest in den Kinderheimen erinnern könne. Er sah erschrocken auf, unsere Blicke begegneten sich zum ersten Mal wirklich: “Ja, geschlagen wurden wir schon und eingesperrt auch. Das war normal.” Bei der Frage nach seinen Gefühlen zuckte er wieder mit den Schultern, senkte die Augenlider und schwieg. Es dauerte eine ganze Weile, bis er zu seiner Stimme zurück fand. Dann erzählte er von seiner Tochter, die seit der Pubertät völlig verändert sei. Kein Arzt wisse, was ihr fehlt. Sie sei nicht dumm, aber sie halte keinerlei seelische Belastungen aus, und deshalb sei es schwer, einen Ausbildungsplatz für sie zu finden, jetzt gehe sie halt wieder in die Schule, er hoffe, dass es mit ihr besser werde, wenn sie erst älter ist, denn dumm sei sie wirklich nicht, nur manchmal sehr traurig. Das schlimmste sei, dass ihr anscheinend niemand dauerhaft helfen könne, weder seine Frau noch er.

Sich selbst erhaltende Kettenreaktion

Ausdrucksweisen wie: Schwabenschlachten, Krepierlager für Schwaben, Schwaben-Sklavenmarkt sind Brandmale eines totgeschwiegenen Völkermordes, den nur diejenigen als solchen nachempfinden können, die dabei waren.

  • Wenn eine Frau, die wegen ein paar versteckter Geldscheine erschossen werden soll, vor dem Kommandanten niederkniet, die Hände faltet, ihm die dreckigen Stiefel küsst und um ihr Leben bettelt, weil sie ein Baby hat, das ohne sie auf jeden Fall sterben muss, dieser Kommandant aber seine Pistole entsichert und der Frau einen Genickschuss verpasst…
  • Wenn ein Partisan ein Kleinkind an den Füßen packt und es mehrmals auf den gefrorenen Boden schlägt …
  • Wenn Partisanen jungen Gefangenen ihre Gewehre in die Hände drücken und sie zwingen, die eigenen Kameraden zu erschießen…
  • Wenn junge Mädchen in den Keller gesperrt, geschlagen und vergewaltigt werden bis sie tot sind, davor aber jede Nacht um Hilfe schreien, ihnen jedoch niemand helfen darf…
  • Wenn Frauen bei eisiger Kälte bis zu den Hüften im Wasser stehen müssen, mit letzter Kraft um Hilfe rufen, und diese Hilferufe irgendwann in der Nacht verstummen, weil die Frauen tot sind…
    All diese Bilder, die Schläge, die Schreie brennen in den Gefühlen derer, die dabei waren. Das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele sucht ein Leben lang nach Balance.

Wunschdenken und Trauma sind siamesische Zwillinge, durch Hass-Liebe unzertrennlich. Je schmerzvoller die Erlebnisse, umso mehr versucht das Opfer zu vergessen. Wenn das mit dem Vergessen nicht funktioniert, wird ausgeblendet. Das eigentlich schreckliche Ereignis bekommt eine Tarnkappe übergestülpt und wird so zum vermeintlichen Neutrum. Das Opfer denkt nur an das, was es verkraften kann und erzählt von dem, was erklärbar ist. Denn für fühlen, hören und sehen sind Worte schwer zu finden. Man könnte sagen, die Erlebnisse, die sich nicht in Worte fassen lassen, konservieren in gefühlten Bildern.

Die meisten im Krieg und während der Besatzungszeit vergewaltigten Frauen haben nie darüber gesprochen – mit niemandem. Erstens hätte sie der Ehemann (oder der Partner) niemals mehr angefasst. Zweitens wären diese Frauen ein Leben lang gebrandmarkt, weil selber schuld. Und drittens: wenn dann auch noch bekannt geworden wäre, dass aus diesen Vergewaltigungen Kinder entstanden sind, hätte die Öffentlichkeit die gesamte Familie dieser Frauen an den Pranger gestellt (hierzu gibt es vereinzelt publizierte Beispiele - auch aus unseren Nachbarländern).

Wie das heute ist mit vergewaltigten Frauen, wissen wir nicht wirklich. Bloß nicht daran denken, zusammenreißen und weiterleben: diese populäre Variante der Verdrängung führt aber zwangsläufig zur inneren Vereinsamung.

Gedenkstätten – Psychotherapie

Das Opfer muss immer wieder zum Tatort zurückkehren, um sich an die Existenz einer Vergangenheit zu gewöhnen, die Teil seines Daseins ist. Es wird lernen, mit dem Schmerz zu leben, wenn es begriffen hat, dass es für die Tat nicht verantwortlich ist. Verweigerung bedeutet: seelischer Rückzug, zwischenmenschliche Leere, absolute Beziehungsunfähigkeit. Mit bruchstückhaften Erinnerungen lassen sich eingefrorene Gefühle auftauen. Wenn es gelingt, die Vorgänge chronologisch zu sortieren und aneinanderzureihen, kann ein funktionierendes Leben in der Gemeinschaft möglich werden.

Durch wiederholt über das Geschehene sprechen, vor allem mit anderen Opfern, formt sich ein Gesamtbild, dem auch Gefühle zugeordnet werden können. Das Opfer stellt fest, dass es berechtigte Angst hat. Es lernt, sich mit dieser Angst zu identifizieren. Indem es sich immer und immer wieder die gleiche Situation vor Augen hält, lernt es, damit umzugehen, zu begreifen, dass diese Situation vorbei ist. So schrecklich sie auch war, aber sie ist vorbei.

Verdrängt das Opfer die Erinnerung, tauchen willkürlich und ungewollt immer wieder Segmente auf, die den gesamten Organismus beeinträchtigen. Undefinierbare Erkrankungen sind die Folge, meist mit unbefriedigenden Diagnosen und ebensolchen Therapien.

Wie schmerzlich die Überlebenden der Vernichtungslager auch danach noch gelitten haben und immer noch leiden, können Unbeteiligte kaum ahnen, da ihnen Vergleiche fehlen, die unter die eigene Haut gehen.

Ein Landarzt, der nach dem Krieg viele Tausend Vertriebene behandelt hatte, erzählte später, er habe nach wenigen Monaten aus all den armseligen zerlumpten Gestalten im Wartezimmer die donauschwäbischen Frauen sofort erkannt, denn aus ihren Gesichtern starrte einem das Leid auf eine derart unbarmherzige Art und Weise entgegen, dass einem schauderte.

Eine heilende Art, mit Kriegstraumata umzugehen ist, eine Stätte zu finden, an der dieser Erlebnisse gedacht werden darf. Ebenso wichtig ist es, mit Gleichgesinnten an diesem Ort über die Geschehnisse von damals zu sprechen. Die Gedenkstätten auf den Massengräbern der Vernichtungslager sind daher nicht nur zu Ehren der Toten, sie sind gleichzeitig Therapie und Rehabilitation für die traumatisierten Überlebenden. Sie fühlen sich durch ein sichtbares Denkmal zumindest von einem Teil der Öffentlichkeit wahrgenommen. Anerkennung und Wiedergutmachung sind die Basis für die Opfer, wieder Vertrauen in die Gesellschaft aufzubauen.

Auch wenn noch auf keiner Tafel in der Vojvodina etwas von Vernichtungslagern geschrieben steht. Die Überlebenden wissen, was dort vorgefallen ist, und deshalb ist so ein Platz für öffentliche Trauer ungeheuer wichtig. Die Geschädigten können ihre eingekerkerte Traurigkeit freilassen. Dort dürfen sie hemmungslos weinen. Tränen, Blumen, Kerzen, Gebete und Gespräche verbinden mit den Toten und machen das Leben mit einer schmerzlichen Vergangenheit lebenswert.

Fazit

Wer Krieg und Völkermord überlebt hat, wird nie wieder so weiterleben können wie vorher.

Traumata lassen sich nicht wegdiskutieren. Sie sind keiner Norm unterworfen und können von einem anderen Menschen nur subjektiv definiert werden. Viele traumatisierte Menschen wirken nach außen völlig normal, ebenso wie die meisten Täter.

Was also ist “normal”?

Ende

2011-03-03