Rezension: Helmut Erwert „Das Schicksal der Donauschwaben in Südosteuropa“

Bibliographische Daten:
Erwert, Helmut: Das Schicksal der Donauschwaben in Südosteuropa mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Minderheit in Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg. Versuch eines Überblicks.
In: Europäisches Journal für Minderheitenfragen Nr. 3-4 (2022), S.323-358.

Es erstaunt immer wieder, mit welcher Oberflächlichkeit manche Historiker über Ereignisse hinweggehen, die für so viele Menschen jahrzehntelang traumatisch nachwirkten. Zutiefst in ihren Gefühlen verletzt wurden donauschwäbische Landsleute durch eine Veröffentlichung der Wissenschaftlerin Marie-Janine Calic. Als Professorin für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München widmete sie dem grausamen Schicksal der Donauschwaben in Jugoslawien in ihrem 344 Seiten umfassenden Standardwerk „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“ (München 2010) gerade mal eine halbe Seite. Dies allein würde die Kritik jedoch nicht rechtfertigen. Es waren vielmehr die beiden folgenden Sätze, die für Aufregung sorgten: „Im Juni 1945 beschloss die jugoslawische Regierung jedoch, ‘dass alle Deutschen … nach Deutschland ausgesiedelt werden sollen’. Zehntausende emigrierten daraufhin nach Deutschland und nach Österreich.“ (S.179) Was zwischen 1944 und 1948 wirklich mit den Deutschen in Jugoslawien geschah – von Emigration konnten die Donauschwaben nur träumen -, hat die Donauschwäbische Kulturstiftung auf 4000 Seiten im vierbändigen „Leidensweg der Deutschen im kommunistischen Jugoslawien” publiziert. In Band IV „Menschenverluste – Namen und Zahlen“ werden 60.000 Tote dokumentiert, darunter die Namen von 40.000 der rund 60.000 zivilen Opfer. Von den 170.000 in Lagern internierten Donauschwaben starben dort 51.000. Im Themenheft „Flucht und Vertreibung“ der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit schreibt Ulf Brunnbauer in seinem Aufsatz „Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Südosteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg: Jugoslawien, Rumänien und Ungarn im Vergleich“ (S.76-89) auf Seite 83 zu angeblich schwankenden Zahlen über die Todesopfer in den Lagern: „20.000 bis 30.000 entspricht eher dem heutigen Kenntnisstand“.
Alles andere als oberflächlich ging Helmut Erwert in seinem Aufsatz „Das Schicksal der Donauschwaben in Südosteuropa mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Minderheit in Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg. Versuch eines Überblicks“, erschienen im Europäischen Journal für Minderheitenfragen, vor. Sehr akribisch beleuchtet Erwert die Zeit von 1944 bis 1948 und deren kontroverse Aufarbeitung, zitiert eine Reihe an serbischen und kroatischen Wissenschaftlern. Er bildet den aktuellen Forschungsstand ab, indem er die bis 2022 erschienene wissenschaftliche Literatur berücksichtigt. Dabei ist Erwert auch nicht entgangen, dass Marie-Janine Calic in der zweiten Auflage ihrer „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“ (2020) einige Ergänzungen vorgenommen hat. Die Lager Rudolfsgnad, Gakowa und Kruschiwl sind nun erwähnt sowie „Zehntausende Menschen“, die den „dortigen Zuständen sowie gezielten Misshandlungen zum Opfer fielen“. Außerdem wird Ray M. Douglas (2019) so zitiert: „In no other country whose German minority was violently displaced in the aftermath of the Second World War do we possess so complete a knowledge of the fate of the expellees, with in many cases the populations of entire towns and villages being accounted for.“ Und dann heißt es: „See especially the Donauschwäbische Kulturstiftung series, Leidensweg der Deutschen im kommunistischen Jugoslawien, 4 vols. München 1991-1995.“
Auf Seite 349 seines Aufsatzes fragt Erwert: „Warum drücken sich manche Darstellungen darum, öffentlich zu bekunden, dass es auch unermessliches deutsches Leid und Tod gegeben hat, ohne wirkliche Schuldbelastung?“ Danach bezieht der Autor selbst Stellung: „Eine Kollektivschuld und eine Kollektivstrafe als Abgleichung – wo immer sie vertreten wird – kann die Mehrheit von persönlich schuldlos geschädigten deutschen Familien, können Zehntausende aus der Erlebnisgeneration und die Nachkommen der ‚Vertriebenen‘ nicht hinnehmen, weil sie dem natürlichen Gefühl von Gerechtigkeit und auch der Rechtsauffassung widerspricht.“
Erwert wurde 1933 in Weißkirchen (Bela Crkva) im Banat geboren, studierte Geschichte, Germanistik und Anglistik an der LMU München, ehe er an bayerischen Gymnasien, in den USA und Spanien unterrichtete. Zu seinen Publikationen gehören Lehrbücher und Darstellungen zur Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Geschichte, unter anderem Beiträge zur Regionalgeschichte seiner neuen Heimatregion Straubing-Bogen und zur südostdeutschen Literaturgeschichte. Außerdem steuerte er in den 1990er Jahren einen Aufsatz zum Band „Die Donauschwaben“ von Ingomar Senz (eine Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat) bei. 2017 erschien sein Roman „Elli oder die versprengte Zeit“ (Patrimonium-Verlag). Ebenfalls 2017 wurde Erwert für sein Lebenswerk mit dem Donauschwäbischen Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.

2023-02-10